Interviews zur Berlin-Wahl: Hans-Christian Höpcke und Nicolas Scharioth

Den Volksentscheid Fahrrad haben Hans-Christian Höpcke und Nicolas Scharioth als Aktivisten mit angeschoben und danach das Netzwerk Fahrradfreundliches Pankow als Bezirksprojekt von Changing Cities mitbegründet. Jetzt wollen sie die Mobilitätswende im Berliner Abgeordnetenhaus voranbringen.

Hans-Christian und Nicolas, ihr stellt euch am Samstag bei den Pankower Grünen zur Wahl. Welche Veränderungen im Berliner Verkehrssystem wollt ihr in den nächsten fünf Jahren erreichen?

Hans-Christian Höpcke: Viele Menschen fordern einen schnelleren Wandel in der städtischen Mobilität, das sieht man sehr deutlich im Aufkommen der vielen neuen Initiativen und Vereine, wie dem Volksentscheid Berlin autofrei. Dieses Momentum möchte ich parlamentarisch begleiten und Alternativen zur Nutzung des eigenen Autos schaffen.  Dafür braucht es durchgehend sichere Rad- und Fußwege, moderne ÖPNV-Fahrzeuge, die an Ampeln automatisch Vorrang haben und eine anbieterübergreifende Plattform für neue Mobilitätsangebote.

Nicolas Scharioth: Uns bleibt nur noch wenig Zeit, um die Klimakrise abzuwenden. Hier braucht es eine mutige Politik, die das Ruder rumreißt. Die Mobilitätswende muss nun auf der Straße sichtbar werden – Priorität für den Umweltverbund! Also für den ÖPNV, den Radverkehr und nicht zuletzt für die Belange der Fußgänger:innen. Ich möchte insbesondere das lang angekündigte stadtweite Radnetz umgesetzt sehen, Kiezblocks in allen Bezirken, fußgänger:innengerechte Ampelschaltungen und einen starken Ausbau gerade von E-Bussen und neuen Tramlinien.

Es braucht durchgehend sichere Rad- und Fußwege, moderne ÖPNV-Fahrzeuge, die an Ampeln automatisch Vorrang haben und eine anbieterübergreifende Plattform für neue Mobilitätsangebote.

Hans-Christian Höpcke

Alle Parteien wollen den ÖPNV, den Rad- und Fußverkehr stärken. Wenn es aber um die Neuordnung von Straßenraum geht, drücken sich viele Kandidat:innen um konsequente Aussagen. Also mal konkret: Wieviel Auto passt in die Stadt?

Hans-Christian Höpcke: Schauen wir uns die jüngeren Städte Nordamerikas an, sehen wir, dass sehr viele Autos in eine Stadt passen, wenn die Straßen und Parkplätze nur immer breiter und größer gebaut werden. Die Frage ist aber, ist solch eine endlose Betonwüste unsere Vorstellung von einer lebenswerten Stadt? Wenn wir unser Berlin lebenswerter gestalten wollen, müssen wir anfangen, den Straßenraum ausgehend von den Gebäuden, statt von der Straßenmitte aus zu verteilen: Erst kommen breite Gehwege, dann sichere Radwege und auch Platz für Bus und Tram, wo es bereits Linien gibt oder neue notwendig sind. Was in der Mitte dann noch übrig bleibt, dürfen auch Autos nutzen. Nicht zu vergessen Bäume und Straßengrün, je nachdem was in der jeweiligen Straße benötigt wird. 

Die Klimaziele der EU, das Berliner Energiewendegesetz, die Pankower Beschlüsse zur Klimanotlage machen klar: Bis 2030 wollen wir den Ausstoß von Treibhausgasen mindestens halbieren. Zum Ende der Legislatur im Jahr 2026 müssen dafür alle Weichen gestellt sein. Wie wollt ihr diese radikale, notwendige Dimension im Verkehrssektor erreichen?

Nicolas Scharioth: Attraktive Mobilität braucht nicht Benzin und Diesel! Andere europäische Metropolen zeigen uns, wie es gehen kann. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo möchte Paris zur „15-Minuten-Stadt“ umbauen, in London gibt es seit vielen Jahren eine „Congestion Charge“ zur Einfahrt in die Innenstadt; diese differenziert stark zwischen Verbrennern, LKWs und E-Autos. Parken muss teurer werden. Hier sollte ein sukzessive steigender Stufenplan her, der allen zeigt: die Zeit der Verbrenner geht zu Ende.

Die Infrastruktur des Umweltverbunds, aber auch Sharing-Angebote und die Verfügbarkeit von E-Ladestationen müssen so gut sein, dass allen gegenwärtigen Autobesitzer:innen der Umstieg leicht fällt. Autos werden durchschnittlich ja so 4-6 Jahre gehalten, das ist eine wichtige Stellschraube. Darüber hinaus müssen wir auch an den Lieferverkehr ran. Wie können wir den umstellen auf Elektro-Mobilität und wo ist es möglich, die letzte Meile sogar per Lastenrad zu leisten? Das sind meiner Meinung die wichtigen Fragen.

„Wenn wir berlinweit Kiezblocks und Fahrradstraßen sehen wollen, oder auch fußgänger:innengerechtere Ampelschaltungen, müssen wir weg von der Einzelfallbehandlung, hin zur großflächigen Betrachtung.“

Dr. Nicolas Scharioth

Wie wollt ihr konkret vorgehen? Könnt ihr Beispiele aus Pankow nennen, wo wir uns die Veränderungen gut vorstellen können?

Hans-Christian Höpcke: Die Schönhauser Allee ist vielen sicherlich gut bekannt: Die Tram steht oft im Stau, die Radfahrenden drängeln sich auf einem schmalen Radweg, der besser Teil des Gehwegs sein sollte. Es gibt drei Fahrstreifen auf jeder Seite, also leicht aufzuteilen: Ein Rasengleis für die Tram, eine Spur für den motorisierten Verkehr, sowie ein breiter geschützter Radweg. In den Nebenstraßen können Lieferzonen angelegt werden, damit die Läden nicht leer bleiben.

Ein anderer bezirksweit bekannter Ort ist der Pankower Anger. Momentan sind Kirche und Grünfläche in der Mitte durch die im wahrsten Wortsinne Breite Straße von den Geschäften abgetrennt. Da die Bundesstraße bereits über die Mühlenstraße Richtung Innenstadt führt, kann die Breite Straße zur Anlieferstraße verkleinert und die Tramgleise auf ein begrüntes Gleisbett auf eine Seite verlegt werden. Der so gewonnene Platz kann zu einer belebten Fußgängerzone mit Cafés, kleinen Läden und Restaurants ausgebaut werden, um dann die Brücke zum neuen Quartier Pankower Tor zu spannen. Auch zum Parken ist im meist sehr leeren Rathaus-Center Parkhaus weiterhin genug Platz.

Eine Visualisierung des Pankower Angers aus dem Projekt Stadtraum 2030.
Quelle: MLA+/Martin Aarts (cc by-nc-nd 3.0)

In der Senats- und Bezirksverwaltung läuft nicht alles rund. Wie wollt ihr das Ping-Pong zwischen den Berliner Ämtern beenden?

Nicolas Scharioth: Zunächst einmal: Das „Behörden Ping-Pong“ ist keine Gesetzmäßigkeit, der wir uns fatalistisch beugen müssen. Es hat sich aus dem ansonsten sehr weitsichtigen „Groß-Berlin-Gesetz“ von 1920 entwickelt, als vormals unabhängige Städte wie Schöneberg und Spandau eingemeindet wurden. Nun ist es Zeit für ein Update! Konkret brauchen wir klarere Zuständigkeiten zwischen den Bezirken und dem Senat: Jede Aufgabe muss genügend kompetentes Personal, Budget und Zuständigkeit haben, damit sie effektiv und zeitnah bearbeitet werden kann.

Wir müssen auch weg von der Bearbeitung einzelner Straßen, Kreuzungen, usw. – das versandet zu oft im Getriebe der Verwaltung, stattdessen hin zu einer themenbezogenen, skalierbaren Umsetzung. Ich möchte ein positives Beispiel geben, das ich selber als engagierter Bürger vor Ort erlebt habe: Die Einrichtung einer temporären Spiel- und Nachbarschaftsstraße war im Bezirk Pankow bisher wahnsinnig mühsam und konnte Jahre dauern.

Die Senatsverwaltung für Umwelt und Verkehr hat zum autofreien Tag letztes Jahr berlinweit Bürger:inneninitiativen aufgerufen teilzunehmen und mit Material unterstützt; mittels kompetenter Amtshilfe aus dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wurden verkehrsrechtliche Anordnungen unbürokratisch umgesetzt. So wurde es möglich, dass 24 Spiel- und Nachbarschaftsstraßen am autofreien Tag mitmachten! 24! Einfach so.

Ich bin überzeugt: Wenn wir berlinweit Kiezblocks und Fahrradstraßen sehen wollen, oder auch fußgänger:innengerechtere Ampelschaltungen, müssen wir ähnlich vorgehen. Weg von der Einzelfallbehandlung, hin zur großflächigen Betrachtung. Dafür müssen wir themenbezogene Kompetenzschwerpunkte in der Verwaltung aufbauen, die federführend agieren, eine Verwaltungsreform kann das unterstützen. Mittelfristig sollten wir auch eine Verfassungsreform ins Auge fassen, um grundsätzlicher an die Aufgabenverteilung zwischen den Bezirken und dem Senat ranzugehen.

Die Verwaltung braucht ein Projektmanagement, in dem nicht nur die Mitarbeitenden, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger Fortschritte verfolgen können.

Hans-Christian Höpcke

Oft scheitert die Verkehrswende auf dem Schreibtisch einzelner Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter, die überlastet, überfordert oder unmotiviert sind. Wie wollt ihr diese Widerstände ausräumen?

Hans-Christian Höpcke: Die allerwenigsten Menschen studieren Verkehrsplanung, um dann 40 Jahre lang Akten von links nach rechts über den Schreibtisch zu schieben. Sie wollen gestalten und die Stadt aktiv verändern. Als Projektleiter weiß ich, wie wichtig es ist, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu zeigen, dass ihre Arbeit wichtig ist und einen Unterschied macht, dass sich Engagement im Job lohnt und es auch bei Widerständen wichtig ist nicht aufzugeben.

Momentan ist es aber leider so, dass Akten irgendwo liegen bleiben und Nicht-Zuständigkeiten dafür sorgen, dass Projekte versanden. Das frustriert und kostet Zeit. Für einen Wandel braucht die Verwaltung ein transparentes Projektmanagement, in dem nicht nur die Mitarbeitenden sehen, dass es vorangeht, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger die Fortschritte in ihrer Nachbarschaft verfolgen können. Auch braucht es eine Führungskultur, die mutig ist und Fehler zulässt, aber auch aus diesen lernt. Deshalb fordere ich sofort, mit entsprechenden Schulungsangeboten die Führungskräfte dieser Stadt fortzubilden.

Bundesrecht bricht Landesrecht. Durchgängiges Tempo 30, Modalfilter, effektives Parkraummanagement werden durch Bundesgesetze ausgebremst. Wie wollt ihr diese Hürden überwinden?

Nicolas Scharioth: Kurze Antwort: Es ist von großer strategischer Wichtigkeit, dass der/die nächste Bundesverkehrsminister:in von den Grünen kommt! Die StVO muss dringend reformiert und überarbeitet werden. Was spricht dagegen, die „Intelligent Speed Adaptation“, also ein GPS-gestützter Tempomat, der ab Anfang 2022 EU-weit Pflicht für alle Neuwagen ist, auch für den Bestand einzuführen? Die etwas längere Antwort: Lasst uns die verfügbaren Spielräume maximal nutzen. Auch auf den so genannten Nebenstraßen können wir noch viel mehr machen, um für Verkehrsberuhigung zu sorgen. 

Ein Mandat im Berliner Abgeordnetenhaus fordert viel Arbeit ab. Wie werdet Ihr eure Zeit zwischen Ausschüssen, Wahlkreis, Beruf und Familie aufteilen? Und wie werdet ihr den Austausch mit den Verkehrswende-Initiativen gewährleisten?

Hans-Christian Höpcke: Ja, leider ist der Abgeordnetenberuf bisher nicht sonderlich familienfreundlich. Von diesen widrigen Umständen lasse ich mich aber nicht abhalten, sondern werde mich dafür einsetzen, dass sich zum Beispiel Sitzungszeiten besser mit Familie und Kindern vereinbaren lassen. Als junger Vater möchte ich das Parlament nicht nur den Älteren überlassen. Ich will jetzt aktiv den Straßenverkehr sicherer machen, damit meine Tochter beim Radfahren Lernen nicht unter die Räder kommt.

Diese Motivation erlebe ich sehr viel bei Gesprächen mit den neuen Verkehrswende-Initiativen. Oft sind es negative Erfahrungen, wie Verkehrsunfälle im Familienkreis, die die Menschen aktiv werden lassen. Es besteht viel Energie sich einbringen zu wollen, zum Beispiel durch das Sammeln von Unterschriften. Aber oft ist es auch einfach das Bedürfnis, in seinen Anliegen “von der Politik” ernst genommen zu werden, dass einem endlich mal jemand zuhört. Das kenne ich als Verkehrswendeaktivist nur zu gut und werde deshalb immer direkt im Austausch mit den Initiativen bleiben, sei es im Telefonat oder direkt bei Demos vor Ort.

Nicolas Scharioth:  Als Abgeordneter ist Kommunikation ein und alles. Es ist wichtig, mit den Wähler:innen im Wahlkreis aber auch aus ganz Pankow und Berlin und natürlich auch mit den Verkehrswende-Initiativen im ständigen Austausch zu sein. Sei das direkt im persönlichen Gespräch oder indirekter per Social Media und anderen Wegen. Meine Wahrnehmung ist, dass gerade Rad- und Fußaktivist:innen sich momentan im Parlament nicht so recht vertreten sehen – das möchte ich ändern! Mir ist auch völlig klar, dass das ein Vollzeitjob ist. Sollte ich nominiert werden, werde ich meine Tätigkeiten als aktiver Gründer und Geschäftsführer deshalb natürlich abgeben. Meine Familie ist mir extrem wichtig. Es muss möglich sein, auch als aktives Elternteil junger Kinder Abgeordneter zu sein.

Die lebenswerte, verkehrsberuhigte Stadt ist ein Stimmen-Gewinner.

Nicolas Scharioth

Viele Berlinerinnen und Berliner wurden durch die Stadtentwicklungspolitik vom Auto abhängig gemacht und sitzen nun in einer Falle: Ohne Auto funktionieren ihre Alltagsroutinen nicht, mit Auto zerstören sie die eigenen Lebensgrundlagen. So entsteht Angst vor Veränderung. Wie geht ihr damit um?

Hans-Christian Höpcke: Niemand quält sich gerne tagtäglich mit dem Auto im Berufsverkehr quer durch die Stadt. Deshalb müssen wir wegkommen von der aus dem letzten Jahrhundert stammenden Idee, die Funktionen der Stadt räumlich zu trennen. Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Erholung müssen zusammen gedacht werden und alles vor Ort in jedem Kiez möglich sein. Dies wird auch die 15-Minuten-Stadt genannt, also eine Stadt oder ein Stadtteil, in dem alle wichtigen Orte in nur einer Viertelstunde gut zu Fuß erreichbar sind. Wenn neue Quartiere als nicht mehr nur aus Wohnungen oder Citybereiche nur aus Büros bestehen, gibt es weniger Gründe, jeden Tag viele Kilometer zurücklegen zu müssen. Das eigene Auto ist dann nicht mehr notwendig für die Alltagsroutinen. Bei gelegentlicher Nutzung zum Beispiel von Carsharing, fällt der Verzicht auf ein eigenes Auto leicht. 

Im Wahlkampf werden einige Parteien populistische Strategien verfolgen und das Abendland mit kostenlosen Parkplätzen am Straßenrand verteidigen. Was ist eure Strategie dagegen?

Nicolas Scharioth: Sollte es so kommen, sehe ich das tatsächlich gelassen. Die CDU Tempelhof-Schöneberg hat jüngst ein Video in diesem Duktus veröffentlicht, das ging ziemlich nach hinten los. Ich bin überzeugt: Die lebenswerte, verkehrsberuhigte Stadt ist ein Stimmen-Gewinner! Wir dürfen nicht vergessen: weniger als die Hälfte der Berliner Haushalte haben überhaupt ein Auto, aber drei Viertel mindestens ein Fahrrad!

Welche Bedeutung werden die Themen Klimaschutz und Mobilitätswende im Wahlkampf bekommen? Wird sich die Wahl daran entscheiden?

Hans-Christian Höpcke: Der Erfolg des Volksentscheids Fahrrad und die riesigen Fridays-For-Future-Demonstrationen der letzten Jahre zeigen, dass die Berlinerinnen und Berliner in diesen Themen bereits viel weiter sind als die meisten Parteien der Stadt. Was am Ende wahlentscheidend sein wird, kann zwar niemand vorhersagen, aber sich den Verkehrsproblemen der Stadt und den Herausforderungen der Klimakrise nicht aktiv zu stellen, wird sicherlich nicht gewürdigt werden.

Nicolas Scharioth: Wir wissen nicht, welche Themen tatsächlich am Wahltag ausschlaggebend sind. Angesichts der Pandemielage scheint es mir vermessen, da auch eine Vorhersage zu treffen. Für’s Klima wird es definitiv aber eine schicksalhafte Wahl. Die Weichen müssen jetzt gestellt werden! Dafür müssen wir mit aller Kraft kämpfen.

Interviews zur #BerlinWahl21
„Politische Köpfe der Mobilitätswende in Pankow“

Das Netzwerk Fahrradfreundliches Pankow befragt Pankower Kandidatinnen und Kandidaten vor und nach den Berlin-Wahlen 2021. Wir wollen die Interviews in loser Reihenfolge auf unsere Website und in sozialen Medien als Texte und Videos veröffentlichen, bei Bedarf in verkürzter Form. Unser Ziel ist es, die öffentliche Debatte zu Verkehrs- und Klimaschutzthemen zu stärken, zu qualifizieren, und sie fair zu führen.

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Das Interview führten Anja Bederke und Hans Hagedorn.